Voyage voyage

Rechtzeitig zu Beginn der jährlichen Urlaubsaison ist die Redaktion aus ihren vierjährigen Ferien zurück gekehrt und hat für Euch einige Überlegungen zum Thema REISEN zusammen gestellt:

"The life of a tourist.. is a hard life."
[Abraham F. Klein]

Mit diesem Song-Zitat wollen wir gleich zu Beginn klar stellen, daß Reisen nicht nur reines Vergnügen ist, sondern eine Vielzahl von Problemen mit sich bringt und einem unentwegt existentielle Entscheidungen abnötigt, unter anderem z.B. die WAHL DES RICHTIGEN TRANSPORTMITTELS. Vielleicht also dazu:
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I.I.) Reisen mit dem Kopf - Fortbewegung durch Blättern

Reisen kann man ja nicht nur mit Fuß und Rad, Flosse oder Flügel, sondern vor allem auch mit dem Kopf: Ein nicht ganz unschuldiges Wochenende mit ERNEST HEMINGWAY in PARIS und PAMPLONA oder doch lieber eine kleine Sünde mit SAMUEL PEPYS in LONDON ? Zuviel Whisky mit RAYMOND CHANDLER oder doch lieber noch ein Raki mit ALEXIS SORBA auf KRETA ? [1]

Wie jede Art der Fortbewegung birgt allerdings auch diese Reiseform so ihre Tücken:

1. Die Reise kann jederzeit unterbrochen und auch nach Belieben wieder fortgesetzt werden.

2. Man ist nie ganz allein, sondern eben in Gesellschaft von anderen spannenden Protagonisten, Kriminellen, Verführern und Versagern.

3. Jedoch muß man sich mit der Rolle des Mitreisenden begnügen und hat wenig Einfluß auf den weiteren Verlauf der Reise.

4. Man bewegt sich nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch in eine andere Zeit (ins Paris und Pamplona der 20er Jahre bei E.H., die Restaurationsepoche bei Pepys)

5. Eine ziemliche Herausforderung gegenüber herkömmlichen Transportmitteln, wenn auch nicht unbedingt immer von Vorteil. Es lauern Gefahren wie Stierkampf, Pest oder Feuerkatastrophe, wer weiß was noch!

6. Die Lektüre läßt die konkreteren sensorischen Qualitäten der unterschiedlichen Aufenthaltsorte relativ offen, eine persönliche Ausmalung ist möglich und mag oft Inspiration zu einer tatsächlichen Reise an den jeweiligen Ort des Geschehens sein.





I.II.) Reisen mit dem Auge - Rolling with the Rollei


Kürzlich waren wir also mit WES ANDERSON auf einer einsamen Insel: MOONRISE KINGDOM hat große Lust auf einen stilvollen Campingurlaub gemacht, obwohl wir Outdoor und Zelte eigentlich zutiefst hassen. Ein anderes Mal waren wir mit PAOLO SORRENTINO in Rom: LA GRANDE BELLEZZA ist einer dieser Filme, bei denen man sich nach Verlassen des Kinosaals sofort ein Ticket nach Rom kaufen will : Man will auf diese verrückten Parties gehen, man will sich anziehen und ausziehen, sich erniedrigen lassen, man will um die Engelsburg fliegen... Kurz gesagt, man würde sich am liebsten in diesem allumfassenden ästhetischen Spektakel auflösen.[2][3]

Nicht jedem Tourist und Hobbyphotographen gelingt es allerdings Motive vor Ort so gekonnt auf Zelluloid zu bannen, wie oben genannten Meistern. Nichtsdestotrotz fühlt sich die Mehrzahl aller Reisenden verpflichtet, den Apparat ununterbrochen auf schon zur Genüge abgelichtete Objekte auszurichten, um ein ganz persönliches Bild davon mitzunehmen. Nein, eine käuflich erwerbbare Postkarte genügt nicht! Warum? Sieht der Apparat etwas, was wir nicht sehen? Etwa mehr?

VILEM FLUSSER hat sich bereits 1983 in seiner Philosophie der Photographie mit der hemmungslosen Knipserei auseinander gesetzt: Der Fotoapparat ist an sich ein strukturell komplexes, aber funktionell einfaches Spielzeug. Darin ist er das Gegenteil vom Schachspiel, das strukturell einfach und funktionell komplex ist: Die Regeln des Spiels sind leicht, aber es ist schwierig, gut Schach zu spielen. Wer dagegen eine Kamera in der Hand hält, kann ausgezeichnete Fotografien erzeugen, ohne eine Ahnung zu haben, welch komplexe Prozesse er mit dem Druck auf den Auslöser in Gang setzt. Im Unterschied zum professionellen Fotografen "beherrscht" der Knipser nicht den Apparat, sondern wird umgekehrt vom Apparat beherrscht:

"Die Kamera verlangt von ihrem Besitzer (von jenem, der von ihr besessen ist), immerfort zu knipsen, immer weitere redundante Bilder herzustellen. Diese Fotomanie der ewigen Wiederholung des Gleichen (oder sehr Ähnlichem) führt schließlich zu einem Punkt, von dem ab sich der Knipser ohne Kamera blind fühlt: Drogengewöhnung setzt ein. Der Knipser kann die Welt nur noch den Apparat und in dessen Kategorien sehen. Er steht nicht "über" dem Fotografieren, sondernen ist von der Gier seines Apparats verschlungen, zum verlängerten Selbstauslöser seines Apparats geworden. Sein Verhalten ist automatisches Kamera-Funktionieren."

Flussers dystopische Vision hat uns mittlerweile längst eingeholt. Nichtsdestotrotz schadet es nie diesen Text retrospektiv zu lesen. Man kann auch darüber spekulieren, was Flusser wohl zur unsererer gegenwärtigen Praxis der sozialen Medien und Zuckerberg gesagt hätte.
Worauf er mit der Philoshophie der Fotografie tatsächlich hinweisen wollte, war ein emanzipierterer und souveräner Umgang mit der uns umgebenden immer komplexer werdenden Technologiewelt. Die Praxis der Photographie phänomenologisch zu untersuchen sollte nur ein Modell sein, um die Möglichkeit der Freiheit in einem nachindustriellen Zeitaler überhaupt denken zu können:

"Die Philosophie der Fotografie hat aufzudecken, daß die menschliche Freiheit im Bereich der automatsichen, programmierten und programmierenden Apparate keinen Platz hat, um schließlich aufzuzeigen, wie es dennoch möglich ist, für die Freiheit einen Raum zu öffnen. Die Philophie der Fotografie hat die Aufgabe, über diesem Möglichkeit der Freiheit - und damit der Sinngebung - in einer von Apparate beherrschten Welt nachzudenken; Darüber nachzudenken, wie es dem Menschen trotz allem möglich ist, seinem Leben angesichts der zufälligen Notwendigkeit des Todes einen Sinn zu geben. Eine solche Philosphie ist notwendig, weil sie die einzige Form von Revolution ist, die uns noch offensteht."







I. III.) Reisen mit dem Finger - Das Studium von Landkarten

Für das Reisen, also die mehr oder weniger vergnügliche Fortbewegung im Raum benötigt man unweigerlich Hilfsmittel zur Orientierung, etwa Landkarten. Der französische Autor Michel Houellebecq beschäftigt sich in mehreren seiner Bücher mit dem Thema Reisen und Tourismus (etwa in LANZAROTE und auch in PLATTFORM).
In seinem bislang besten Roman KARTE UND GEBIET, für den er auch mit dem Prix Gonxourt belohnt wurde, wird dem Romanheld - dem Künstler JED MARTIN - plötzlich eine große ästhetische Offenbarung zuteil:

"Diese Karte war geradezu erhaben; bis ins Innerste aufgewühlt begann er vor dem Verkaufsständer zu zittern. Noch nie hatte er so etwas Herrliches gesehen, das so reich an Emotionen und Sinn war wie diese Michelin-Karte der Departements CREUSE und HAUTE-VIENNE im Maßstab 1:150 000. Die Quintessenz der Moderne, der wissenschaftlichen und technischen Erfassung der Welt, war hier mit Quintessenz animalischen Lebens verschmolzen. Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur ein begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen - von denen die einen zur Verdammnis und die anderem zum ewigen Leben berufen waren."

Er zieht sich daraufhin sechs Monate zurück, um in einer intensiven Schaffensphase die Michelin-Regionalkarten mit Hilfe von Makro-Objektiven so zu fotografieren, daß sie tatsächlich die Form der abgebildeten Landschaft annehmen:

"Er hatte für die Ausstellung einen Ausschnitt aus der Michelin-Karte der CREUSE ausgesucht, in dem das Dorf seiner Großmutter verzeichnet war. Er hatte eine stark geneigte optische Achse gewählt, einen Winkel von dreißig Grad zur Horizontalen, und die Filmstandarte für größtmögliche Tiefenschärfe maximal gekippt. Anschließend hatte er mit Hilfe von Photoshop-Filtern eine Entfernungsunschärfe und einen bläulichen Effekt am Horizont erzielt. Im Vordergrund sah man den See von Breuil und das Dorf Chatelus-le-Marcheix. Weiter hinten führten zwischen den Dörfern Saint-Goussaud, Laurier und Jabreilles-les-Bordes gewundene Straßen durch die Wälder, die wie eine unantastbare, feenhafte Traumlandschaft wirkten. Hinten links im Bild konnte man das wie aus einer Nebelbank auftauchende rot-weiße Band der Autobahn A20 erkennen".

Es kommt schließlich soweit, daß der Künstler auf Einladung von Michelin eine Ausstellung mit deren Kartenmaterial gestaltet und die ihn schließlich in den Status eine anerkannten Gegenwartskünstler katapultiert. Er arrangiert die Michelin-Departmentalkarten neben Satellitenfotos, die das selbe Gebiet zeigen: "Der Kontrast war frappierend: Während auf dem Satellitenfoto nur eine Suppe aus mit verschwommenen bläulichen Flecken übersäten, mehr oder weniger einheitlichen Grüntönen zu erkennen war, zeigte die Karte ein faszinierendes Netz von Landstraßen, landschaftlich schönen Strecken, Aussichtspunkten, Wäldern, Seen und Pässen. Über den beiden Fotos stand in schwarzen Lettern der Titel der Ausstellung: "DIE KARTE IST INTERESSANTER ALS DAS GEBIET"."

Nicht schlecht, was ? Im Übrigen teilen wir Jed Martin's Begeisterung für Michelin-Karten absolut. Wenn Sie das nicht verstehen, dann gehen sie in die nächste Buchhandlung oder auch zur gut sortierten Tankstelle und besorgen sie sich ein Exemplar (Die mit dem dicken weißen Männchen drauf!). Falten Sie die Karte langsam und vorsichtig auf, uns breiten Sie die Karte vor sich auf. Tauchen Sie ein, versinken sie. Nur dann werden Sie erfahren, was es alles zu sehen gibt...





Segelspass mit Roman Polanski

I.IV.) Vorauseilende Souvenirs - die Praxis

Machen Sie sich einen schönen Abend in dem sie herrliche Ingredienzen aus anderen Ländern in eine gelungene Kombination bringen:
Auf nach Polen!
Wie wär's also mit einem guten roten BORSCZ, dazu ein oder zwei Gläschen WODKA WYBOROWA, danach segeln Sie mit ROMAN POLANSKI's MESSER IM WASSER über die Mazurische SEENPLATTE, begleitet von KRZYSTOF KOMEDA's verspielten Jazzkompositionen.
Als passende Bettlektüre empfiehlt sich PORNOGRAPHIE von WITOLD GOMBROWICZ oder COCKPIT von JERZY KOSINSKI. Was für ein Vergnügen!

Oder doch nach Cape Cod ? Überraschen Sie Ihren Liebsten oder Liebste mit einem CAPE CODDER als Aperitiv. Zum CLAM CHOWDER gibt es eine LOBSTER ROLL, dazu ein alte Platte von den PIXIES, die kommen nämlich auch aus Boston. Unweit davon wurde auch Steven Spielberg's "JAWS" gedreht, nämlich am Strand von Martha's Vineyard oder eben auch "MOONRISE KINGDOM" von Wes Anderson auf Prudence Island. Beschliessen Sie diesen tollen Abend mit ein paar Zeilen von DENNIS LEHANE, der ja momentan auch dauernd verfilmt wird (MYSTIC RIVER oder SHUTTER ISLAND). Der Kombinatorik sind kein Grenzen gesetzt, die Redaktion wünscht jedenfalls viel Verngügen. Sollten Sie eine besonders schöne Kombination gefunden haben, berichten Sie uns davon! Gute Nacht!



Vilem und Edith Flusser

Nachträgliche Anmerkungen

1) Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und lebt in vollem Bewußtsein dessen, daß sie unendlich fortgesetzt werden kann
2) Ja, es gibt noch viele andere Filme, die Lust auf Rom machen. Ein paar sind von ANTONIONI, einige von PASOLINI, manche von FELLINI und andere von MORETTI etc tbc
3) In einer der nächsten Ausgaben werden wir uns mit dem Thema der Reise im Film auseinander setzen, also wenn das Kader tragende Motiv tatsächlich die Reise selbst ist, wie etwa bei: In PIERROT LE FOU von Godard reisen ANNA KARINA und JEAN-PAUL BELMONDO von PARIS nach PORQUEROLLES, bei IL SORPASSO schaukeln VITTORIO GASSMAN und JEAN-LOUIS TRINTIGNANT in einer LANCIA AURELIA von ROM nach CASTIGLIONE, bei MORD im ORIENT-EXPRESS fährt ALBERT FINNEY und ein Haufen alter Hollywoodstars von ISTANBUL nach BUDAPEST und bleibt dabei im Schnee stecken. Dann natürlich auch DARJEELING LIMITED.. Ach, es gibt so viele !!


Quellen und Verwendete Literatur:

Vilem Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, Hrsg. von Andreas Müller-Pohle, Berlin 1983
Michel Houellebecq, Karte und Gebiet, Dumont, Köln 2011
Cahiers du Cinema "Filmer L'étè", Juillet/Aout 2016, No 724
Photography by Abraham Feinbein Klein and Katka Binderova


Michel Houellebecq mit seinem Corgi